Liner notes for the CPO CD Lao Tzu Sonatas:
Horatiu Radulescu: Trois Sonates d’après Lao tzu opus 82, 86 et 92 (1991 – 1999)
Ortwin Stürmer, piano
Vor langer Zeit, bei der Hochzeitsfeier der Römerin Cäcilia erklang damalige zeitgenössische Musik. Cäcilia beschloss, auf die Ehe zu verzichten. Denn sie soll, so weiß es die Legende, statt der gespielten Musik ganz andere Töne vernommen haben. Dieser innere Entschluß besiegelte ihren späteren Märtyrertod, Cäcilia wurde eine Heilige und Schutzpatronin der Musik. Seit dem beginnenden 20. Jahrhundert befindet sich die Heilige Cäcilie jedoch in bedrängender Ummauerung – so jedenfalls sieht es Max Ernst 1923 in seinem Gemälde Heilige Cäcilie – Das unsichtbare Klavier (1923). Augen, Gesicht und Körper sind wie eingemauert, nur die Hände und der Fuß haben sich zu imaginärem Klavierspiel befreit. Wer war es, der Cäcilie eingemauert hat (wie es der mittelalterlichen Legende entspricht), und wer arbeitet möglicherweise weiterhin an der Ummauerung der Musizierenden? Oder ist Cäcilie umgekehrt dabei, mit ihrem imaginären Tastenspiel sich aus der Ummauerung zu befreien, hin zu freiem lebendigen Musizieren? Und welcher inneren musikalischen Vision folgt Cäcilie heute, welche Klaviermusik hat sie bis heute prüfend ertastet, welches sind ihre alle Begrenzungen sprengenden musikalischen Visionen für die Zukunft?
Horatiu Radulescu, 1942 in Bukarest geboren, 1969 nach Paris übergesiedelt, lebt heute in Clarens bei Montreux, wo seinerzeit Stravinsky seinen Sacre komponierte. Seit seiner Studienzeit in Bukarest war Radulescu fasziniert davon, die in jedem Klang enthaltenen Mikrophänomene durch eine Erweiterung des Spektrums der Klangfarbe und Dynamik hörbar zu machen, gemäß Pythagoras Einsicht, dass ein Klang ein Ozean mit tausend Klängen ist. Schon lange vor den französischen Spektralkomponisten, bereits Ende der sechziger Jahre, ersetzte er die temperierte Tonskala durch spektrale Skalen ungleicher Intervalle. Das resultierte in einer radikalen Absage an tradierte musikalische Notationssysteme und Ordnungsprinzipien, wie er sie 1973 in seinem Buch Sound Plasma – Music of the Future Sign fixierte. Radulescus Partituren sind filigrane zeichnerische Kunstwerke mit farbigen grafischen Symbolen und Anweisungen. Bereits in einem Stück für neun Celli aus dem Jahre 1969 (mit dem bezeichnenden Titel Credo: als ästhetischem Credo) komponierte er mit 45 Komponenten eines Spektrums auf C und begründete damit die spektrale Kompositionstechnik. 1979 bescheinigte der alte Olivier Messiaen seinem damals siebenunddreißigjährigen jungen Kollegen, dass dieser in besonderer Weise “an der Erneuerung der musikalischen Sprache mitgewirkt” habe. Zu seinem bis heute über hundert Kompositionen umfassenden vielseitigen OEuvre, für das er eine Reihe glanzvoller Auszeichnungen erhielt, gehören Auftragswerke für alle renommierten internationalen Festivals neuer Musik, für zahlreiche Interpreten, Rundfunkanstalten und Stiftungen sowie für die Kultusministerien Frankreichs und der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. 1983 gründete er das European Lucero Ensemble, das seitdem unter seiner Leitung in Europa und den USA konzertierte. Eine Reihe von Kompositionen sind bisher von renommierten Interpreten bei Rundfunkanstalten in Europa, den USA und Australien produziert worden. Seit 1971 wurde Radulescu in zahlreichen Sendungen in Rundfunk und Fernsehen in Europa, Nord- und Südamerika, Israel, Japan und Australien bekannt. Sein vielseitiges OEuvre umfasst Werke u.a. für Orchester, Soloinstrumente, Stimme, Kammerensemble, Orchester und Tonband, Chöre und Solisten, Kinderchor, Klavier, Streichquartett sowie verschiedene unkonventionelle Besetzungen (darunter 40 Flötisten mit 72 Flöten oder Werke mit dem vom Komponisten so genannten “Sound Icon”, einem vertikal auf der Seite liegender Flügel, dessen Saiten mit einem Bogen gestrichen werden). Sie verbinden poetisch-religiösen Ausdruckswillen mit konstruktiver Formkraft, forschendes Durchdringen der Möglichkeiten der Spektralkomposition mit klangsinnlicher Erfindung. Dabei zählen mehrschichtige Zeitabläufe, ihre Strukturierung, Wahrnehmung und geistige Aussagekraft zusammen mit der Entfaltung spektralen Komponierens zu Radulescus zentralen künstlerischen Anliegen. In den geheimnisvollen Klanglandschaften seiner Partituren mit so bedeutungsvollen Namen wie Lamento di Gesù, Angolo divino, awakening infinity, inner time und outer time, …do emerge ultumate silence…, practicing eternity u.a. laufen mehrere Wahrnehmungsebenen in bewusst kalkulierter Gleichzeitigkeit ab, erzeugen aber in ihrem Miteinander ein Gefühl magischer Trance und Verschmelzung.
Die vorliegenden drei Lao-tzu-Sonaten verdanken ihre Entstehung einem freundschaftlichen Kontakt zwischen Komponist und Interpret. 1990 lernte der Pianist Ortwin Stürmer den Komponisten Horatiu Radulescu kennen und regte ihn an, diese drei Sonaten sowie das Klavierkonzert The Quest zu komponieren. Alle Projekte wurden vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg finanziell unterstützt. Diese Lao-tzu-Klaviersonaten Radulescus dokumentieren wichtige Stationen seiner kompositorischen Entwicklung in den 90-er Jahren. Sie geben in eindrucksvoller und verblüffend eigenständiger Weise eine jeweils neue, ernsthafte Antwort auf die schon von Schubert gestellte Frage, ob im Bereich der Klaviersonate nach Beethoven überhaupt noch etwas geleistet werden könne. Jeder Sonate hat der Komponist ein Fragment aus einem der 81 Aphorismen des chinesischen Tao Te Ching von Lao-tzu zugeordnet (in der englischen Übersetzung des Kaliforniers Stephen Mitchell), wobei inhaltliche Bezüge und zahlenmäßige Entsprechung konvergieren: die Sentenz der 2. Sonate ist aus dem 2. Aphorismus, die der 4. Sonate aus dem 4., die der 3. aus dem 33. Aphorismus entnommen.
2. Klaviersonate op. 82 (1990/91)
„Being and Non-Being create each other” (Lao-tzu: Tao Te Ching)
In der dreisätzigen 2. Klaviersonate op. 82, dem früheren Schüler Eric Tanguy gewidmet und von Ortwin Stürmer 1991 in Freiburg uraufgeführt, setzt sich Radulescu mittels der musikalischen Möglichkeiten der Spektralfunktionen mit der Gattungstradition auseinander. Der erste Satz Immance [Immanenz], eine Sonatenhauptsatzform, beginnt mit einer Viertaktgruppe: ein obsessiv fragendes Motiv, zugleich archaisch und von Beethovenscher Prägnanz, wird dreimal wiederholt und im vierten Takt beantwortet. Dasselbe wiederholt sich, variiert, einen halben Ton höher. Das Klangmaterial dieser Themenexposition basiert auf ’selbstgenerativen’ Spektralfunktionen, d.h. die Intervallabstände sind analog zur Ringmodulation erzeugt. Eine dramatisch zupackende eintaktige Klangzelle aus dem Überleitungsabschnitt wird später in der Durchführung große Bedeutung bekommen. Das zweite Thema dann ist eine dreiteilige quasi folkloristische Melodie. Der kurze Mittelsatz, Byzantine Bells [Byzantinische Glocken], entfaltet das Antwortmotiv des ersten Themas aus dem ersten Satz auf unterschiedlichen Grundtönen. Aus den Tönen eines großen Akkords entsteht ein asymmetrischer melodischer Sechstonmodus. Im dritten Satz, Joy [Glück], der auf einem ‘metrischen Ostinato’ aus drei Vierteln und drei punktierten Vierteln beruht, verwendet Radulescu als klangliche Grundlage ein Eigenzitat aus einem Jugendwerk des Jahres 1967. Die Rückkehr des Folklorethemas aus dem 1. Satz als lydischer Pentachord führt das Finale, im Sinne einer klanglichen Aufhellung, einer – so der Komponist – “Öffnung zur Ewigkeit”. Die paradoxe Einheit der musikalisch verwirklichten Gegensätze in dieser 2. Sonate ist es, auf die sich die zweite Sentenz aus dem Tao te Ching des Lao-tzu bezieht.
3. Klaviersonate op. 86 (1992-99)
„You will endure forever“ (Lao-tzu: Tao Te Ching)
Zwar wurde diese Klaviersonate nach der vierten 1999 komponiert, doch reichen wesentliche kompositorische Ideen bis 1992 zurück, weshalb Radulescu sie als dritte zählt. Das Werk trägt die Widmung “à Ortwin Sürmer, en toute amitié” und bekam eine „Hommage à Roger Woodward“. Der Widmungsträger hat sie beim 19. Internationalen Klavierfestival „La Roque D’Anthéron“ in Südfrankreich mit spektakulärem Erfolg uraufgeführt (wobei das enthusiastische Publikum die Wiederholung des dritten Satzes forderte). Der Komponist benannte sein Werk einmal „ein Monster von Schönheit und Tragik zugleich“. Den sonatenförmigen Kopfsatz, If you stay in the center [Wenn du im Zentrum bleibst] durchziehen Themen byzantinischer Hymnen des 9. und 13. Jahrhunderts in ‚diffracted’ Heterophonie (als zweites Thema). Das erste Thema basiert wie in der zweiten Sonate auf selbst-generativen Spektralfunktionen. Aus dieser Gegenüberstellung und Verbindung entsteht ein besonderer ‚Zeit-Raum’, in dem Klangarchitektur und Spektralberechnung, Religion und Poesie eine einzigartig komplexe Welt bilden. Der zweite Satz, And embrace death with your whole heart [Und umarme den Tod mit Deinem ganzen Herzen] ist ein Trauermarsch der Gegenwart, eine Begräbnismusik in einer zutiefst tragischen Sprache gemäß dem Motto von Lao-tzu, im Gedenken an die Leiden der Welt. Doïna, der dritte Satz, geht auf einen melancholischen Gesang aus Maramures im Norden von Rumänien zurück, ein authentisches Beispiel proto-spektraler Musik. 1911 nahm Béla Bartók auf einer seiner Exkursionen das Spiel eines 25-jährigen Schäfers auf einer ‘Tilinca’, einem Blasinstrument ohne Grifflöcher, auf und notierte später diese Melodie. Der 11. Obertonklang, auf dem temperierten Klavier annäherungsweise durch zwei simultan gespielte unterschiedliche Quarten realisiert, sodann die durchgängige Resonanz und schließlich die in hohen Akkorden ausbrechenden Spektren machen aus diesem weitschwingenden Gesang, so der Komponist, den „Schönheitskern [beauty-nucleus]“ der gesamten Sonate. Der vierte Satz, Eternal Dance [Ewiger Tanz] ist wie eine Art Mikroversion des Boleros von Ravel. Er besteht aus 25 Variationen über die innere Konsistenz eines Spektralakkords. Gleichzeitig läuft ein Perpetuum mobile aus einem 4-2-3-Metrum ab, das zusammen mit dem „Tanz der Dynamik“ den Eindruck eines ‚Kristall-Mobiles’ im Sinne von Calder entstehen lässt. Der abschließende 5. Satz, You will endure forever [Du wirst ewig währen] ist Rhythmus pur, ein Ostinato, das mit wenigen fundamentalen Elementen ein großräumiges Accelerando schafft, einen ‘Abgrund von Zeit’.
4. Klaviersonate op. 92 (1993)
“Like a Well … Older than God”
Die 1993 entstandene und durch den Widmungsträger Ortwin Stürmer uraufgeführte 4. Klaviersonate trägt (wie zahlreiche Werke Radulescus) als Titel eine Sentenz aus dem Tao te Ching des chinesischen Philosophen Lao-tzu: „Wie eine Quelle – Älter als Gott“. Der Kopfsatz auch dieser Sonate ist eine originelle Auseinandersetzung mit der Tradition des Sonatensatzes. Dem ersten Thema, welches diesem Satz die Überschrift gab (Trumpets of the eternal [Trompeten des Ewigen], wird als zweites Thema die mehrstimmige Bearbeitung – auch als ‚diffracted’ Kanon – eines uralten rumänischen Weihnachtsliedes aus der Volksliedsammlung Béla Bartóks gegenübergestellt. Die Intervalltürmungen über die gesamte Klaviatur, insistierende Gesten und schroffe dynamische Gegensätze lassen wohl verstehen, warum der Komponist ob seiner unbeirrbaren Konzessionslosigkeit von Le Monde als in hohem Maße “beethovenhaft” tituliert wurde. Der zweite Satz, The sacred sound [Der heilige Klang], bildet mit seinen strahlenden Mehrklängen, teilweise in sehr hohen Lagen, einen abstrakten Tanz, gleichsam ein akustisches Mobile von Calder, auf die Obertöne eines zentralen h bis zu dem 17. Oberton. Mit der Bezeichnung “nüchternes Klangritual” verweist der Komponist auf die strukturellen Tiefendimensionen dieses Satzes. In meisterhafter Ökonomie der Mittel werden im großartig schlichten, nur 36 Takte langen dritten Satz (Music … Older than Music [Musik ... Älter als Musik] zwei weitere Weihnachtslieder aus der Sammlung Bartóks polymetrisch und polytonal, bei kontinuierlich anschwellender Dynamik, gegeneinander geführt – eine imaginäre Riesenglocke von geheimnisvoller Klangfülle, deren Echo genauso lang ist wie die notierte, anschwellende musikalische Struktur: insgesamt in Webern’scher Dimensionieren nicht mehr als zwei mal 30 Sekunden, die eine musikalische Welt bedeuten. Der abschließende vierte Satz, ein düsterer, verwegen-diabolischer Abyssal Dance [Abgründiger Tanz], gründet auf einer unbeirrt beibehaltenen asymmetrischen rhythmischen Formel. Die Heilige Cäcilie am Klavier: dass sie auf dem Gemälde von Max Ernst nicht – wie auf zahlreichen Renaissance-Abbildungen – Orgel, sondern Klavier spielt, ist mehr als Zufall. Universalität und (nahezu) Unbegrenztheit der musikalischen Darstellungsfähigkeit, im Spannungsfeld der Erkundung pianistischer Möglichkeiten und der Darstellung universeller Ideen, sind von Beethoven, Brahms bis Stockhausen, von Debussy, Scriabin bis Radulescu und auch in Zukunft die besondere Domäne dieses Tasteninstruments.
© Hartmut Möller, 2004
~ by Horatiu Radulescu on November 2, 2008.